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Das Kreuz mit der Achtsamkeit

Ich hatte es offenbar nötig: Das Achtsamkeitstraining. Im Hier und Jetzt sein, alles nacheinander  und bewusst tun. Ich befinde mich da in guter Gesellschaft. Denn immer mehr Menschen besuchen Achtsamkeitskurse, beginnen MBSR-Ausbildungen oder sehnen sich nach Einkehr, ziehen sich ein paar Tage an einen Ort der Stille zurück. Zum Beispiel ins Kloster Gerode.

 

 

 

Meine erste Station der Harzreise: Fünf Tage „Kloster auf Zeit“ in Gerode

 

Das Kloster Gerode, gegründet von Benediktinern im 12. Jahrhundert, befindet sich genau genommen nicht im Harz, sondern in Thüringen. Nur wenige Schritte von diesem 10 ha großen Klostergelände entfernt, befand sich die deutsch-deutsche Grenze. Eine „Schlagbaumlinde“ erinnert noch heute an diese Grenze zwischen Thüringen und Niedersachen, die so viele Dörfer für Jahrzehnte auf brutale Weise in der Mitte durchgeschnitten hat.

 

 

Wer die Stille liebt, ein paar Tage die Reise nach innen antreten möchte, eben auch Achtsamkeit üben möchte, der ist hier richtig, im Kloster Gerode. Benediktiner leben hier schon lange nicht mehr. An die Klostertradition wird jedoch ein bisschen angeknüpft. Hier kann man „Kloster auf Zeit“ buchen. Man mietet sich hier ein, für drei Tage oder auch fünf oder mehr.

 

Ich teile mein sehr großzügiges Zimmer mit einer Frau namens Patricia. Wir verstehen uns gut. Es stellt sich heraus, dass sie dort als Grundschullehrerin arbeitet, wo ich geboren wurde, in Delmenhorst. Nur einmal leidet unsere kleine Klostergemeinschaft: Als sie sich in der Toilette einsperrt und sehr laut mit einer Freundin telefoniert. Die Bank hatte einen Kreditantrag abgelehnt, der Traum vom eigenen Haus auf dem Land war geplatzt.

 

 

 

Das alte Kloster wurde von dem Berliner Verein „Weg der Mitte“ in den 90er Jahren erworben und aufwändig saniert. Zum Kloster gehört ein sehr großer Garten, ein alter Baumbestand, ein Heilgarten, landwirtschaftliche Flächen, eine Kirchenruine, mehrere Nebenhäuser, die auch als Klostercafé und für Anwendungen genutzt werden.

 

„Kloster auf Zeit“ bedeutet: Kein Handygebrauch, kein Laptop im Kloster, die Mahlzeiten finden überwiegend im Schweigen statt. Dankesrituale vor dem Essen. Wer möchte kann von 7 Uhr morgens bis 8 Uhr am „Benefit Yoga“ teilnehmen und abends an einer Meditation, teilweise eingeleitet durch Mantras, die auf indischen Instrumenten begleitet werden.  Alle Kloster-auf-Zeit-Gäste helfen täglich 30 Minuten in der Küche mit, „Seva“ nennen sie das. Achtsamkeit im gemeinsamen Tun üben. Also Gemüse schnibbeln. Dabei gibt es kurze Informationen zu den Nährstoffen einzelner Gemüsesorten. Die vegetarische Küche ist übriges hervorragend, eine Besonderheit. Ein großer Teil der Lebensmittel wird hier selbst angebaut, es kommt fast alles aus dem eigenen Garten.  Selbstversorgung ist das Ziel. So wie auch früher in den Klöstern. Im Frühjahr muss der Garten hier ein Traum sein, schon jetzt herrscht ein betörendes Vogelgezwitscher. Ich hätte nie gedacht, dass ich mir mal ein Buch über deutsche Vogelstimmen kaufe. Hier geschehen! Ich wollte wissen, was da zwitschert.

 

 

Eigentlich ist dies der perfekte Ort für stillesuchende Menschen.

 

Der Zehlendorfer Verein scheint mit seinen Angeboten im Kloster den Nerv der Zeit zu treffen. Die Nachfage scheint groß zu sein. Es werden neue Grundstücke dazugekauft, die Kloster-Angebote des Vereins werden immer breitgestreuter und vielfältiger. Viele kommen immer wieder und der Bedarf nach solchen Orten der Stille, an dem man Yoga praktizieren und Achtsamkeit üben kann, scheint kontinuierlich zu wachsen. Am Bahnhof in Leinefelde unterhalte ich mich auf der Rückfahrt mit einem Hamburger, der schon seit zehn Jahren ins Kloster herkommt, jetzt noch zur Jahresgruppe der Yogaleute gehört. Er bedauert es schon jetzt, dass diese Gruppe dieses Jahr zuende geht.

 

Dennoch: Es bleibt ein Unbehagen

 

Warum meldet sich trotz dieser vielen sehr positiven Dinge ein Aber?

 

Warum schleicht sich bei mir ein Unbehagen ein, während so viele andere, die ich im Kloster kennengelernt habe, diesen Ort uneingeschränkt mögen?

 

Es gab Dinge, die mich befremdet haben. Zum einen dieses riesiges Werbeplakat „Benefit Yoga“, das

 

in dem schönen großen Anbau thront, in dem jeden Morgen Yoga praktiziert wird. Zum einen hat sich mir nicht erschlossen, was denn das Besondere an diesem „Benefit Yoga“ sein soll (schließlich profitiert man immer vom Yoga). Außerdem:  Ich habe in den letzten 15 Jahren viele Yogaschulen kennengelernt. Aber keine hat ständig so intensiv Werbung betrieben für die eigene „Marke“, die eigene Yogaschule.  Es gab nicht nur diesen „Werbebanner“ in dem großen Raum, sondern jeden Morgen wurde man von der Yogalehrerin mit dem Satz begrüßt: „ Herzlich willkommen beim Benefit-Yoga“. Als gäbe es das heimliche Ziel, dass sich der Name dieser “Marke“ auch wirklich bei uns einprägt, vergleichbar irgendeinem anderen Produkt, das uns in mehreren Werbeschleifen täglich im Radio oder Versehen angepriesen wird.

 

Bestätigt wurde dieser Eindruck eines sehr marken- und marketingaffinen Klosters durch ein Gespräch mit einer jungen Frau, die sich gerade entscheiden musste, ob sie im Frühjahr mit der vierjährigen Yogaausbildung beginnt. Sie erzählte mir, dass Marketing eine erhebliche Rolle in dem Ausbildungsplan spielt. Jede/r, die mit dieser Ausbildung fertig wird, ist dann im Grunde ein Werbeträger vom „BenefitYoga“.  Man geht so eine Art Bund fürs Leben ein. Wahrscheinlich ist dies vielen Yogaausbildungen eigen: die Schüler/innen sollen ihren Lehrern und der einen Schule gegenüber loyal bleiben. Das erinnert an Religionszugehörigkeit: Wenn du einer Gemeinde angehörst, dann schließt das eine andere aus.

Mir scheint das ein sehr enges Konzept zu sein. Ich frage mich, ob da überhaupt Wachstum und Weiterentwicklung möglich ist. Die guten Lehrer/innen sind doch die, die sich ständig weiterentwickeln und auch immer Neues integrieren, was sie für sich als heilsame und richtig entdeckt haben.

 

 

Das zweite, was mich irritiert hat, ist die komplette spirituelle Intransparenz. Immerhin befinden wir uns in einem Kloster mit christlicher Tradition. Hier und da sieht man buddhistische Figuren. Ist der Verein buddhistisch? Und welcher Richtung gehört er an? Wer die Selbstdarstellung liest, erfährt, dass der Verein vor vierzig Jahren gegründet wurde und eine Dänin dabei entscheidend war, die im Zuge ihrer „internationalen Lehrtätigkeit“ nach Berlin kam.

 

Nur: Warum steht nirgendwo, was sie genau unter dem „Weg der Mitte“ versteht? Wenn man in ein katholisches Kloster fährt oder in den Benediktushof bei Würzburg, dann ist das alles transparent: Was hier geglaubt, praktiziert wird. Im Kloster Gerode habe ich keine Transparenz entdecken können. Es wird viel geredet von Achtsamkeit, Gesundheit, Ganzheitlichkeit. Das tun viele andere Schulen auch.

 

Die anderen Gäste auf Zeit, mit denen ich ins Gespräch kam, hinderte diese Intransparenz nicht daran, sich hier ganz wohlzufühlen.  

 

Der Ort ist so zwischen Baum und Borke: ein bisschen Gesundheitshotel , ein bisschen Wellness (Massage, weitere Anwendungen), ein bisschen Spiri (Stille, Schweigen, Meditation, Yoga, Gesprächsrunden).  Vielleicht macht genau das den Erfolg des Konzeptes aus, diese Mischung.

 

Zweite Station: Goslar

 

Spontan entscheide ich mich, meine Harz-Reise zu verlängern. Und bleibe zwei Nächte in Goslar.

 

Dort gibt es die Frauenpension „Arletta“, benannt nach einer griechischen Sängerin. Das könnte doch ein guter Ort sein für eine alleinreisende Frau, dachte ich. Die kleine Pension liegt etwas außerhalb von Goslar, umgeben von Häusern des sozialen Wohnungsbaus. Leider ist die Pension menschenleer, ich scheine der einzige Gast zu sein. Abendessen gibt es auch keines, Kaffee muss man sich selbst machen in einer Teeküche. Im Kloster war es etwas netter….

 

Gerade als ich mich damit abgefunden hatte, in dieser menschenleeren Pension zu sein, liefen mir plötzlich zwei Gäste über den Weg. Die erschraken im Flur genauso wie ich. Am gleichen Abend traf ich sie wieder, in der Goslarer Altstadt. Auch sie, auf der Suche nach einem Lokal, weil es in der Pension nichts zu essen gab.

Die Begegnung war ein Glücksfall. Wir verbrachten zwei schöne Abende, hatten intensive Gespräche. Beide waren bereits in Rente, die eine schon sieben Jahren, die andere erst zwei. Eine pensionierte  Gewerkschafterin, eine pensionierte Lehrerin. Beide trauerten vergangenen politisch bewegten Zeiten hinterher, als  es noch wesentlicher Bestandteil des Lebensgefühls war, sich mit anderen zu engagieren. Und das Gefühl hatte, dass man die Welt gemeinsam verbessern könne mit einem kollektiven Willen.

 

 

Goslar ist übrigens wirklich eine Reise wert. Ich war vollkommen überrascht von dem großen Reichtum hier: die Stadt ist - mit ihren 1000 Fachwerkhäusern aus der romanischen, der gotischen und der barocken Epoche das - reinste Museum. Vor allem geprägt durch seine 1000-jährige Bergbaugeschichte. Das Bergbau-Museum kann ich  nur allen ans Herz legen. Die Fahrt mit einem Wagen in die Tiefe war beeindruckend. Unvorstellbar, dass Menschen hier zehn Stunden und mehr früher gearbeitet haben. Noch 1948 bestand noch die 48-Woche bei 12 Urlaubstagen.

 

Bei einer Stadtführung lerne ich viel über die Rolle der 12 Gilden in der Stadt; woher das Wort „Spieß-Bürger“ kommt, erfahre viel über die Firmengeschichte von Siemens, die hier vor 300 Jahren ihren Ursprung hat. 

 

 

 

Dritte Station: Das Naturfreundehaus in Bad Harzburg

 

Im Harzführer hatte ich gelesen, dass es allein im Harz 16 Naturfreundehäuser gibt.

 

Spontan  entscheide ich mich, noch zwei Nächte in Bad Harzburg zu bleiben in einem dieser

 

Naturfreunde-Häuser. Im Allgäu hatte ich mal sehr gute Erfahrungen gemacht mit diesen Häusern. Meist liegen sie in wunderschöner Natur, sind sehr ökologisch und es wird sehr gut gekocht. In Bad Harzburg ist davon leider nichts der Fall. Das Haus macht einen vollkommen verlassenen Eindruck, Essen ist Fehlanzeige (bis auf das Frühstück), seit Jahrzehnten ist hier absolut nichts mehr investiert worden zu sein. Nur zelten ist noch einfacher. Das Haus wirkt vollkommen verlassen, es ist ein wenig gespenstig.

 

Als ich abends ankomme, denke ich, dass ich mal wieder der einzige Gast bin. Dann taucht doch noch überraschend ein Vater mit seiner Tochter auf. „Wir gucken jetzt Fußball. Komm doch dazu.“

 

Das ist eine sehr nette Einladung. Das Spiel Deutschland-Brasilien ist langweilig, die Gesellschaft aber nett. Die beiden kommen aus Bremen, der Vater bringt seiner Tochter gerade Skifahren bei. Oben in Braunlage scheint noch Schnee zu liegen.

 

Ich entscheide mich am nächsten Tag für die „Luchstour“, laufe 16 Km bei schlechtem Wetter bei toller Landschaft. Dazwischen dann die „Luchsfütterung“. Ich weiß jetzt vieles über Luchse. Schöne Tiere sind das.

 

 

Am letzten Tag verirre ich mich leider im Wald. Ich wollte nur  einen Spaziergang machen von einer Stunde bevor ich in den Zug steige. Es liegt oben noch Schnee, es ist teilweise vereist. Nach 45 Minuten drehe ich um. Eigentlich wollte ich den Weg „einfach“ zurückgehen. Und scheine eine falsche Abzweigung genommen zu haben. Wie unachtsam! Eigentlich müsste ich gleich zurück ins Kloster....

 

 

Ich habe kein Geld mit, keine Regenjacke, kein Wasser, Netzempfang gibt es nicht. Ich verliere völlig die Orientierung. Irgendwann will ich nur noch den Berg runter, das scheint mir der einzige Weg zu sein, das Desaster zu beenden. Ich ignoriere dabei  ein riesiges Plakat „Weitergehen  verboten! Waldarbeiten“. Egal!

 

 

Der Weg war extrem schlecht, ich sackte mit meinen leichten Wanderschuhen tief in den Boden. Die Geräte der Forstarbeiter hatten offenbar den Weg sehr in Mitleidenschaft gezogen.  Vor mir öffnete sich bald der Blick auf einen halbverwüsteten Wald: Unendlich viele Bäume lagen danieder, der letzte Sturm Frederike hatte vor allem die Fichten massenweise entwurzelt.  Abgesehen davon, dass mir kalt war, konnte von Wandergenuss keine Rede sein. Endlich entdeckte ich einen Forstarbeiter, mit dem ich mit beraten konnte: Wieder den Berg hochlaufen? Oder weiter runterlaufen durch den Matsch?

 

Ich entschied mich fürs Runterlaufen und hatte dann das große Glück, dass mich an ein Forstarbeiter im Auto mitnahm. „Und wo sind wir, wenn wir unten sind?“ fragte ich. „In einem Vorort von Goslar“,

 

sagte der nette junge Mann. Ach, du meine Güte! Da war ich doch schon, da wollte ich nicht noch einmal hin…

 

 

Unten angekommen stellte sich nun die Frage: Wie komme ich zurück? Es fuhr kein Bus und Geld hatte ich ohnehin keines.

 

Es blieb mir nichts anderes übrig als zu trampen. Das dritte Auto hielt. Ein tiefenentspannter Familienvater fuhr mich bis vor die Haustür. Bis zum Naturfreundehaus.  Das war eine Art vorgezogenes Ostergeschenk.  

 

Es gibt jedenfalls noch viel zu lernen bei der Achtsamkeit…

 

 

 


 

 

 

 

 

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