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Lektüretipp: "Das Gehirn ist weniger ein Denk- als ein Sozialorgan"

gelingt“, „Schule der Zukunft“, „Wo wohnt die Seele“ und  „Die Wiedererweckung der Intentionalität und Co-Kreativität“. Alle seine Vorträge haben hohe Reichweiten. Und damit darf man ihn getrost neudeutsch als „Influencer“ bezeichnen.

Meine Einstiegslektüre: Bedienungsanleitung für das menschliche Gehirn. Sein Thema: Wie wir unser Gehirn benutzen sollten. Und was das menschliche Gehirn zum Beispiel von dem eines Maulwurfs und anderen (kleinen und großen) Tieren unterscheidet.

 

Was ihn offenbar (nicht mehr) interessiert: Wie das Gehirn genau gebaut ist; wo genau und wann die Glückshormone ausgeschüttet werden. Sein Appell: Vergesst, was die Medien über das Gehirn verbreiten. „Es gibt keine Faulheitsgene, Intelligenzgene, Suchtgene…Was es gibt, sind unterschiedliche Anlagen, charakteristische Prädispositionen (Veranlagungen) und spezifische Vulnerabilitäten (Anfälligkeiten). Was aber letztendlich daraus wird, hängt von den jeweils vorgefundenen Entwicklungsbedingungen ab.“

Das Entscheidende für den Hirnforscher ist: Dass unser Gehirn ein Organ ist, dass man hegen und pflegen muss wie jeden Muskel; wie alle Körperteile, die wir mit der Geburt geschenkt bekommen. Sonst verkümmert es und ist nicht mehr in der Lage, neue Lebenssituationen zu meistern und keine Hilfe in einer sich ständig wandelnden Welt.

 

Auch Hüther war einmal ein konventioneller Gehirnforscher, ein "klassischer" Naturwissenschaftler. Der mit Laborratten forschte und es spannend fand, das Gehirn zu zerlegen, Messungen und Untersuchungen aller Art vorzunehmen. In einer materialistischen Welt gilt ohnehin nur, was man wiegen, messen, analysieren kann. Mittlerweile glaubt er nicht mehr daran, dass man das Wesentliche vom menschlichen Gehirn begreift, wenn man so vorgeht.  Auch er glaubte eine ganze Weile an das Dogma, das über Jahrzehnte die Gehirnforschung beherrscht hat: Das Dogma von der Unveränderlichkeit der einmal im Gehirn entstandenen Verschaltungen, in die Welt gesetzt von dem Pionier der Hirnforschung namens Raymond y Cajal.

"Die wichtigste Erfahrung, die ein Mensch im Laufe seines Leben machen kann, ist psychosozialer Natur".

Inzwischen steht das Gegenteil fest: Auch im Erwachsenenalter ist das Gehirn noch im hohen Maß strukturell formbar. Was ist dabei entscheidend? „Den größten Einfluss auf die Nervenzellverschaltungen haben die Erfahrungen. (…) Die wichtigste Erfahrung, die ein Mensch im Lauf seines Lebens machen kann, ist psychosozialer Natur.“ Kurz: Neue, gute Erfahrungen können alte Prägungen „überschreiben“. Das ist eine gute Nachricht, die man sehr gerne glaubt!

 

Daher ist einer seiner Kernthesen: Unser Gehirn ist weniger ein Denk- als vielmehr ein Sozialorgan.

 

 

 

Was zeichnet das menschliche Gehirn aus?

Der Mensch kommt mit einem unfertigen Gehirn auf die Welt. Wie es sich entwickelt, hängt von den oben genannten Erfahrungen, vor allem in den ersten Monaten und Jahren mit den Hauptbezugspersonen ab. Liebe, sichere Bindung der Eltern und weiteren Personen, sind dabei der wichtigste Garant für eine gute Gehirnentwicklung. Es ist mittlerweile hinreichend erforscht, was passiert, wenn Neugeborene und kleine Kinder nicht das bekommen, was sie lebensnotwendig von den Erwachsenen brauchen – ihr Gehirn verkümmert, manche Kinder sterben sogar. Ohne liebevollen Blickkontakt, Ansprache, Aufmerksamkeit, sichere Verbindung, liebevollen Umgang und Körperkontakt kann kein Mensch wachsen. Das Gehirn schon gar nicht.

 

Hüther schreibt auch ausführlich über die „kulturelle Evolution“ und dass es natürlich entscheidend ist, welche Lebensbedingungen wir bei Geburt vorfinden. Er analytisiert anschaulich, was passiert, wenn aus „primärer Bewältigungsstrategie (zum Beispiel von Angst) ein eingefahrenes Programm wird: Der Mensch scheitert kläglich, sobald neue Herausforderungen kommen.

 

„Nichts im Hirn kann sich weiterentwickeln und zunehmend komplexer werden, wenn es keine neuen Aufgaben zu lösen, keine neue Anforderungen zu bewältigen hat.“

 

Von hier aus ist es nicht weit zu einer Gesellschaftskritik, mit der Hüther nicht spart. Er kritisiert die wirtschatliche und politische Elite; den Egoismus und die Rücksichtigslosigkeit und wird in seinen youtube-Vorträgen nicht müde zu betonen, dass wir alle mit einem Entdeckergeist, mit Neugier und Freude am Lernen geboren werden. Vielen wird im Zuge der Heranwachsens genau das abtrainiert, so dass die Freude am Gestalten und Erkunden auf der Strecke bleibt. Wer die Freude am Lernen und Gestalten verlernt hat, dem ist das Lebendige abhanden gekommen. Mit weitreichenden Folgen auch für Unternehmen, die Gesellschaft, die Familien.

 

Und wie sieht die Erlösung aus?

Der "eingekapselte" Mensch kann aus seiner Sicht nur erlöst werden, indem er wieder mit sich selbst in Berührung kommt, indem er mit dem abgestorbenen Teil in Kontakt kommt.Und dafür braucht er andere Menschen, die ihn ermutigen, einladen, neue Erfahrungen zu machen.

Kein Wunder, dass Gerald Hüther ein gern gesehener Redner auf Tagungen zum Thema "New Work" ist. Denn: Lebenslanges Lernen geht nicht mit einem Gehirn, das zum Stillstand gekommen ist. 

 

 

 

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Martina Lohan (Donnerstag, 31 Oktober 2019 09:21)

    Ein sehr spannender und informierender Beitrag zum Thema Hirn, dessen Entwicklung und in meinen Augen den momentan größten Fürsprecher des ständigen am Ball-Bleibens. Aus eigener beruflicher wie privater Erfahrung kann ich dem Ganzen nur zustimmen. Danke für diesen schönen Beitrag zu einem wichtigen Thema!