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Theaterkritik: Du sollst den Wald nicht vor dem Hasen loben

Am 1. November, einem verregneten, ungemütlichen Herbstfreitag, machen wir uns auf dem Weg zum „Theaterkontor“. Das soll sich in der Hortensienstraße 28 in der Nähe vom Botanischen Garten befinden. Nie gehört von dem Theater. Kein Wunder, dass wir zunächst gar kein Theater finden, sondern ein Hotel. Erst beim genauen Hinschauen entdecken wir ein Plakat an der Haustür. Theaterkontor, 2. Stock. Wir wollen zur Aufführung „Du sollst den Wald nicht vor dem Hasen loben“. Wir stapfen einige Stockwerke hoch und kommen dann in Geschäftsräume. Am Eingang nimmt uns ein überdurchschnittlich freundlicher Herr die Jacken ab.

 

Wir befinden uns in der Schule sprachConcept. Der Leiter der Schule hat das „Theaterkontor “ins Leben gerufen. Er möchte den Kiez kulturell beleben. „Es gibt hier so gut wie gar nichts, wo die Leute hingehen können“, sagt er. Tolle Initiative, finde ich. Diese Stadt lebt genau von solchen Privatpersonen, die kulturelle Initiativen ergreifen. Im  Eintrittsgeld sind Häppchen und Getränke enthalten. Heute ist die Auftaktveranstaltung vom „Theaterkontor“.

 

Viele Menschen aus der Umgebung sind gekommen, viele sind älter als 60 Jahre.

 

Vielleicht sind viele wegen des Themas gekommen: Das Theaterstück "Du sollst den Wald nicht vor dem Hasen loben" hatte kürzlich in Berlin Premiere, es geht um das Thema Demenz.

 

Die Schauspielerinnen Christa Müller (geb. 1946), lange beim Deutschen Theater engagiert, unter anderem auch als Leiterin der Autorentage und die in Zürich geborene Anna von Schrottenberg (geb. 1978) übernehmen in diesem Beziehungsstück die einzigen beiden Rollen und wagen das Abenteuer, in kammerspielartigen, kleinen (Theater-) Räumen zu spielen. Das ist Theater pur. Es gibt keinen Vorhang, kein Bühnenbild, fast kein Abstand zwischen Publikum und den Schauspielerinnen. Ausstattung: zwei Sessel, ein Tisch, ein Fotoalbum, ein Kassettenrecorder.

 

Das gesamte Bühnengeschehen wird von zwei Figuren bestimmt: der dementen Mutter, die ins Pflegeheim umziehen muss und der Tochter, die an ihren Heimatort zurückgekommen ist, lange war sie in Afrika. Abgehauen, sagt die Mutter. Nach Afrika abgehauen.

 

 

Berührtes Publikum

Um eines gleich vorweg zu sagen: Das Publikum ist von der Aufführung sehr berührt. Jeder, der sich bei dem anschließenden Nachgespräch zu Wort meldet, hat beruflich mit Demenz  zu tun oder ist privat betroffen. Das Stück sei allen empfohlen, die ein Bedürfnis haben, sich über ihre Erfahrungen mit Demenz auszutauschen. Das Stück ist eine hervorragende Möglichkeit, dazu ins Gespräch zu kommen. Der Bedarf wird groß sein in Deutschland. Bereits jetzt sind 1,3 Millionen Menschen betroffen, Tendenz natürlich steigend.

 

"Jetzt bin ich eben in der anderen Hälfte"

 

Aber zurück zur Aufführung und zu meinen Eindrücken: Während um uns herum alle bewegt sind und das Bedürfnis haben, anschließend über ihre Lebenserfahrungen zu sprechen, bleiben mein Begleiter und ich eher unberührt. Jedenfalls hat es uns nicht emotional in etwas hineingezogen wie das beim Theater, bei jeder Bühnenkunst, idealerweise passieren kann. Es gibt tragik-komische Momente, da müssen wir auch lachen oder schmunzeln. Vor allem, wenn die Tochter mit ihrer Mutter das alte Zitatenspiel versucht und ihr immer die ersten Wörter von einem Sprichwort vorliest und die Mutter den Satz vervollständigen soll. Du sollst….den Wald nicht vor dem Hasen loben.“  Immer und immer wieder wird aus dem „Buch der Zitate“ vorgelesen. Und immer hat die Mutter keine Ahnung mehr, wie das Sprichwort richtig heißt. Dabei kommen dann viele originelle Sätze zustande: „Brauchtum ersetzt den Zimmermann“.

 

Auch sehr schön der Dialog. „Ordnung ist ….“, fragt die Tochter: Wie geht es weiter?

 

Die Mutter hat keine Ahnung. „Ordnung war dir doch immer so wichtig!“ ruft die Tochter.

 

„Aber jetzt bin ich eben in der anderen Hälfte.“  

Die Tochter wird getrieben von dem einen Herzenswunsch: Dass ihre Mutter endlich das „Rätsel“ Vater lüftet. Den hat sie nie kennengelernt. Sie ist schwanger und versucht mit aller Kraft und Wucht der Mutter endlich die Wahrheit zu entlocken. Wann immer die Tochter nach ihm fragt, weicht die Mutter aus und beginnt, laut zu singen, gerne „Wenn die bunten Fahnen wehen“!

 

Die Tochter forscht in Briefen,  in Fotoalben und konfrontiert die Mutter immer wieder.

 

Das ist die gesamte Handlung.

 

 

Warum packt sie uns nicht? Das wird es doch geben, so eine Konstellation. Eine Tochter will endlich wissen, wer ihr Vater war. Und die Mutter, die ihr ihr Geheimnis bewahrt, indem sie „verschwindet“. Das gibt es tausendfach in Deutschland: Menschen, die ihr Gedächtnis verlieren, dement werden. Das verlangt unendlich viel Toleranz, Geduld, Mitgefühl. Erst zum Schluss akzeptiert die Tochter in dem Stück, dass ihr Mutter langsam "verschwindet" und versucht nichts mehr einzufordern, was die Mutter nicht geben kann.

 

 

Das Thema ist stark. Gar keine Frage! Noch einmal: Warum sind wir dennoch nicht richtig beteiligt?

 

Es liegt nicht an den Schauspielerinnen.  Beide spielen sehr überzeugend, sind ein sehr gutes Team. Christa Müller spielt mit größter Freude diese Rolle. Sie war es auch, die den Wunsch hatte, dieses Theaterstück aufzuführen. Anna von Schrottenberg spielt die Tochter sehr überzeugend.

 

 

 

Ich glaube: Es liegt am Stück, an seiner Machart. Vermutlich ist das autobiographische Buch, das dem Stück zugrunde liegt, sehr lesenswert. Aber dem  Theaterstück fehlt der Spannungsbogen, die Mini-Handlung wirkt immer wieder konstruiert und nicht plausibel. Die Figur der Tochter ist sehr reduziert, immer nur versucht sie, der Mutter die Wahrheit zu entlocken. Es scheint auch, als hätte man versucht, dieses Konstruierte durch eine besondere Emotionalität der Tochter zu "kompensieren". 

Die Mutter ist per se reduziert und sagt immer das Gleiche: „Wie geht es dir? Gut. Warum fragst du?“ Das kann man der Figur nicht vorwerfe, dass sie reduziert ist. Denn ihr Gedächtnis weiß nicht mehr.

 

 

Nur ein Beispiel, woran sich die Schwäche des Stücks bemerkbar macht: Damit ich mich wirklich für diesen geheimnisvollen spanisch spechenden Vater interessiere, müsste ich ein bisschen mehr erfahren. Warum wird nicht aus dem Briefen einmal vorgelesen, mit denen die Tochter auf der „Bühne“ vor der Mutter rumfuchtelt? Allein die Tatsache, dass die Mutter nichts über den Erzeuger erzählen will, erzeugt noch keine Spannung. Auch die Tatsache, dass die Tochter schwanger ist, lässt die Spannung nicht steigern. Es wirkt etwas konstruiert, dass die Tochter gerade deswegen darauf drängt, dass das Vater-Rätsel gelüftet wird.

 

 

Dennoch: Ich kann mir viele Orte in Deutschland vorstellen, wo das Stück sehr hilfreich ist, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Für Angehörige, Partner*innen, Geschwister, Kinder ist es eine große emotionale Belastung, nicht mehr wiedererkannt zu werden und einen geliebten Menschen, langsam „verschwinden“ zu sehen. Es ist gut damit nicht alleine zu bleiben und Räume des Austausches, der Verarbeitung zu haben. Und ein Theaterstück ist etwas, was unmittelbar berühren kann, Menschen verbindet durch gemeinsames Erleben und etwas Anderes als eine Dokumentation im Fernsehen.

In diesem Sinne wünsche ich dem Stück viele Zuschauer*innen.

 

 

 

 

Nächste Aufführungen in Berlin:

 

15+16. November 2019  im TAK Theater Kreuzberg und im Januar 2020…

 

Regie führt die aus Rumänien stammende France-Elena Damina. Sie gehört zur „Stückwertstatt Berlin“, einem Zusammenschluss von drei Theatermacherinnen.

 

 

Nächste Veranstaltung im „Theaterkontor“: 10. Januar 2020 (Programm steht noch nicht fest.). Die Kulturveranstaltungen finden alle zwei Monate statt.

 

 

 

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Martina Lohan (Mittwoch, 06 November 2019 10:36)

    Ein interessanter Einblick für ein Stück, das ein Thema behandelt, mit dem Viele nicht umgehen können oder wollen. In meinen Augen sehr wichtig.
    Danke auch für den Hinweis auf das Theaterkontor, das mir bisher trotz Kiezkenntnis unbekannt war, aber das ich zukünftig ein bißchen im Blick behalten werde.