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Plötzlich Lehrerin

Zugegeben: So ganz plötzlich bin ich auch nicht in diesen Beruf gerutscht.

Ich hatte es ja eigentlich schon aufgegeben...

Aber der Reihe nach.

 

Wie alles begann

Seit August 2019 an hatte ich mich ein Jahr um einen Quereinstieg in Berlin bemüht. Schließlich liest man ja seit Jahren, dass dringend Lehrkräfte gesucht werden in der Hauptstadt. Und seit Jahren liebäugle ich mit einer beruflichen Veränderung. Lehrerin wollte ich tatsächlich mal werden nach dem Abitur. Also nichts wie los. Kann ja nicht so schwer sein, schließlich habe ich beste Voraussetzungen. Dachte ich.

Die Realität: 2,5 Monate wurden meine Abschlüsse von der Berliner Bildungsverwaltung geprüft. Zweimal nahm ich an Castings teil. Ergebnis: Null. Berlin brauchte mich nicht.

 

Letzter Versuch: Auf Anraten einer Bekannten, die in Berlin auch gescheitert war, stelle ich alle meine Unterlagen im Brandenburger Bildungsportal des Ministerium ein. Und siehe da! Da gibt es keine wochenlangen Prüfungen und hier darf ich nicht nur Deutsch an einer Grundschule unterrichten, sondern auch Französisch an einer Sekundarschule. Es lebe der Föderalismus. Dass ich keine Ausbildung habe: Macht nichts. Die Hochschulzeugnisse sind ja prima. Außerdem habe ich Unterrichtserfahrung und mal drei Jahre in Frankreich gelebt.

 

„Wir sind eigentlich eine gemütliche Schule“, sagt mir der Schulleiter beim Vorstellungsgespräch in der  „Grund- und Oberschule“ in einem brandenburgischen Dorf. Davon wird das ganze Schuljahr über nichts zu spüren sein. Sanierung und Corona-Unterrichtsbedingungen bringen alle in einen Ausnahmezustand.

 

Arbeitsverträge hatte ich immer nur über zwei Monate, da ich eine Kollegin mit einem Corona-Attest vertrat. Das Attest wurde immer zwei Monate verlängert. Aus zwei Monaten wurde ein ganzes Schuljahr.

 

Ein wertvolles Jahr intensiver Erfahrungen. Erfahrungen mit Kindern und Jugendlichen zwischen 6 und 17 Jahren. Mit Eltern. Mit einem wunderbaren Kollegium und einer sehr engagierten Schulleitung, die alles dafür getan hat, einen guten Schulbetrieb aufrechtzuerhalten unter schwierigsten Rahmenbedingungen. Trotz ohrenbetäubender Sanierung der Schule und den wechselnden Vorgaben der Schulbehörde beim Umgang mit Corona. 

 

Den Begriff „Grund- und Oberschule“ kannte ich vorher gar nicht. Die Bezeichnung gab es vielleicht nur in der DDR. Gemeint ist jedenfalls: Grundschule 1- 6, danach folgt die Sekundarstufe 1. Ab der 7. Klasse werden die Klassen also neu zusammengesetzt. Die meisten Kinder ab der 7. Klasse kommen  aus den umliegenden Schulen. Sie eint: Im Gegensatz zu den anderen Kindern habe sie es nicht geschafft – den Sprung zum Gymnasium oder zur Gesamtschule. Das ist für viele der erste Knick. Allerdings ist es auch eine Chance für die Kinder, die immer in der zweiten Reihe waren – jetzt sind die Besten weg und nun haben sie die Chance, nach vorne zu rücken.

 

Ich durfte dort übrigens zum Jahresende plötzlich  auch vier Wochen einen Deutschlehrer vertreten in der vierten Klasse, der in Elternzeit ging.

Und von Januar 2021 an wurde ich auch noch in der sogenannten „Notbetreuung“ eingeteilt in der Grundschule: 5 Kinder aus der 5. Klasse mit Eltern aus sogenannten systemrelevanten Berufen; vor allem aber 10 Kinder aus der 1. Klasse.

 

Kernaufgabe blieb aber, den Französischunterricht in der 7., 8. und 10. Klasse irgendwie aufrecht zu erhalten – mit  nur Präsenzunterricht, nur homeschooling und Wechselunterricht. Da war die Lernkurve hoch!

 

Der Abschied fällt mir schwer. Und er fällt mir leicht. Warum?

Vermissen werde ich die Kleinen aus der 1. Klasse. Sie sind mir ans Herz gewachsen. T. ist mir noch am letzten Tag bis ans Schultor hinterhergelaufen und hat immer wieder gefragt: „Du kommst doch wieder?“ Mich brachte das richtig in Not. Wie erklärt man einem Kind, das man nicht wiederkommt?

 

T. war einer von 10 Kindern, die ich ab Januar 2021 12 Stunden in der Notbetreuung“ hatte. Der Junge war für sein Alter etwas zu ernst, fand ich. Er liebte es in meiner Nähe zu sein und ich liebte seine Nähe. Beim Spiel „Lotti Karotti“ blühte er auf, vor allem wenn er gute Karten hatte, strahlte er über das ganze Gesicht. Bei dem Spiel geht es um Hasen, die natürlich alle an die Karotten ranwollen. Und die waren in der Mitte des Spiels und gar nicht so einfach zu erreichen!

 

Einmal kam er in einem aufgewühlten Zustand in die Schule und fegte schon bald voller Wut seine Schulsachen vom Tisch. Das war sehr untypisch. Ich hatte ihn noch nie aggressiv erlebt. Es stellte sich dann heraus, dass er sich mit seiner Mutter gestritten hatte. Sein Vater, krebskrank, war gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen worden. Nun verstand ich, warum er so ernst war.

 

Da gab es O. Das lauteste Kind, verhaltensauffällig und anfangs eine echte Herausforderung für die sehr erfahrene Grundschullehrerin. Für mich natürlich allemal. Wie integriert man ein rülpsendes, lautes Kind, das blöde Witze erzählt, sich so gut wie gar nicht konzentrieren kann und ziemlich grobmotorig ist. Einmal brüllt er einem Kind auf dem Schulhof so laut ins Ohr, dass das Kind vor Schmerz in Tränen ausbricht. Ich muss den Jungen zur Schulleitung bringen.

 

Das ist leider manchmal das einzige, was wirkt. Das trifft auch fast alle „schwierigen“ Kinder und Jugendliche hier zu: Nur die Androhung von schlechten Noten, Anruf bei den Eltern und Gespräch mit der Schulleitung zeigen Wirkung. Sanktionieren, Androhen von „Strafen“ sind wirklich nicht mein Ding.

 

Schon einige Monate später ist O. ganz gut integriert und freut sich, dass auch er die Schulaufgaben gut erledigt. Er brauchte eine intensive Betreuung, danach geht es ganz gut.

 

Dann gibt da C., den blonden Engel. Anfangs verwechsle ich sie mit einem anderen blonden Mädchen. Dann steht sie immer entrüstet vor mir und sagt: „Ich bin doch Cl...! Es gefällt mir sehr, dass die Mädchen so selbstbewusst sind.

 

Es gibt den kleinen E., ruhig, sorgfältig, langsam.

 

Es gibt den fröhlichen und lauten Angeber M. („Ich kann alles“).

 

P., der immer seine Kuscheltiere dabei hat. Zum Beispiel seinen Eisbär.

 

An einem Morgen sagt er: „Heute wird Geburtstag gefeiert. Mein Eisbär wird heute 1 Jahr alt.“ Er hat immer eine Hand auf seinem mitgebrachten Kuscheltier liegen und mit der rechten macht er seine Hausaufgabe.

 

G., die Plaudertasche. Auch etwas bequem. Bevor er sich die Aufgabe angeschaut hat, kommt er schon angewackelt und jammert: „Kann ich nicht!“

 

T., der Überflieger und Neunmalkluge. Ist immer schnell fertig. Er ist ein bisschen isoliert deswegen. Er lässt das auch etwas zu sehr raushängen, dass er der Beste ist.

 

C. und L.: unzertrennlich. Und zerstritten. Sie können keinen Schritt alleine machen und streiten aber auch heftig. L. ist häufig beleidigt und schmollt gerne ausgiebig.

 

Wenn es geregnet hat, lieben sie es, auf dem Schulhof Schnecken zu sammeln. 35 Schnecken haben sie einmal stolz präsentiert. Und sehr gerne würden sie alle mit in den Klassenraum nehmen. Warum? „Damit sie draußen nicht so alleine sind.“ Logisch!

 

L. kippelt häufig mit dem Stuhl. "Wieso kippelst du so?" frage ich.  „Ich nehme Anlauf zum Subtrahieren.“ L. kann das Substrahieren nicht ausstehen.

 

Wenn Pause ist, gehen L. und C. immer Hand in Hand.  Auf dem Spielplatz haben sie einmal einen Maikäfer entdeckt. Dem bauen sie im Grünen ein neues Zuhause.

 

Achtung Helikoptereltern

Ich lerne viel von den Horterzieherinnen. „Viele der Kinder hier haben Helikoptereltern. Die Kinder werden dadurch unselbständig. Manche Kinder sind schon mit 7 oder 8 Jahren richtig egomanisch.“

 

Die Kinder sind oft fordernd und es offenbar gewöhnt, dass ihre Wünsche sofort erfüllt werden. Manchmal habe ich jemanden geholfen und ein anderes Kind ruft mir  zu:  “ Komm mal her!“ Klingt wie ein Befehl. Erziehungsaufgabe: Warten lernen. Es geht nicht immer um dich. 

 

Ich ahne in diesen Monaten etwas von der enormen Erziehungsaufgabe: Viele Kinder hören überhaupt nicht zu, sie machen, was sie wollen, nehmen auch die Horterzieherinnen oft nicht ernst. Manchmal wird sehr laut gesprochen bzw. gebrüllt – sonst kommt offenbar nichts an.

 

Sensation Eichhörchen

Einmal unterbrechen alle gleichzeitig ihre Arbeit an den Hausaufgaben: Der Klassenraum befindet sich im 3. Stock. Vor dem Klassenfenster ist ein sehr schöner großer Baum. Und auf einmal sitzt da ein Eichhörnchen. Für die Kinder eine tolle Sensation. Alle Kinder sind begeistert und erzählen von ihren Tieren im Garten und zu Hause. Eichhörnchen sind natürlich interessanter als die Mathematikpyramide.

 

An einem anderen Tag ist es der Maler, der im Schulflur auf seiner Leiter gekonnt voran robbt und malt. Er ist im Nu umringt von allen Kindern, die auch alle mal auf die Leiter wollen.

 

Besondere Momente

Einmal wurde ein Junge urplötzlich ganz traurig mitten im Unterricht. Für mich kam as aus heiterem Himmel. Einige Minuten vorher war die Horterzieherin im Raum und hatte Zettel eingesammelt. Ich glaube, es ging um die Weihnachtsfeier im Hort.

 

Ich bin zu dem Jungen hingegangen und habe gefragt, was ihn so traurig macht. Erst wollte er nicht sprechen. Dann stammelte er, er hätte den Zettel seiner Mutter vergessen und jetzt hat er Angst, dass er nicht am Weihnachtsfest teilnehmen darf. Ich habe ihn getröstet und versichert:  Das ist kein Problem. Das kriegen wir schon hin!

 

Kinder sind Ausdruckskünstler*innen

Das hat mich an den kleinen Kindern so fasziniert: Die denken nicht nach, ach, wie geht es mir jetzt. Sie drücken  ihre Gefühle unmittelbar aus. Sie freuen sich. Sie sind traurig. Sie sind wütend. 

 

Da kommt bei mir die Frage auf: Warum verlernen das Erwachsene irgendwann, was doch für die Kleinen kinderleicht und natürlich ist und so gesund?  Zum Erwachsenensein gehört, seine Gefühle regulieren zu können. Aber warum gilt es im Erwachsenenleben eigentlich als so wertvoll, dass wir so häufig nicht unmittelbar zeigen, wie es uns geht?? Vieles wäre doch einfacher im Umgang mit anderen, wenn man wüsste, was mit einem selbst oder dem anderen los ist. Die Kinder sind jedenfalls eine gute Schule für Erwachsene, finde ich.

 

Einmal hatte ich in der „Notbetreuung“ (4. Klasse) ein Mädchen, das partout ihre Hausaufgaben nicht machen wollte. Ich versuchte herauszubekommen, warum nicht. Sie mauerte beinhart. „Ich mache das nachmittags mit meinem Vater zusammen. Der hilft mir bei den Matheaufgaben“. Das sei  schön, dass sie einen Vater hat, der ihr hilft. Versuchte sie aber dazu zu bewegen, einfach schon jetzt in der Schule damit anzufangen. Keine Chance. Ich habe mir Rat geholt bei der Primarstufenleiterin. „Schicken Sie das Mädchen mal zu mir.“ Sie kam zurück und wir waren noch immer keinen Schritt weiter. Ich sah, dass sie mit den Tränen kämpfte. Dann sagte sie: „Ich bin nachmittags doch ganz alleine. Meine Eltern sind nicht da und seit Corona ist, kann ich mit meinen Freundinnen auch nicht mehr spielen. Ich habe einfach nichts zu tun. Deswegen will ich die Hausaufgaben nachmittags machen. Sonst habe ich ja gar nichts mehr.“

S. ist in der 5. Klasse, auch sie lerne ich in der Notbetreuung kennen. Sie weicht nicht von meiner Seite. Sie erzählt mir alles, was zuhause los ist. Ihre Mutter hat sich in einen anderen Mann verliebt. Und dass ihr Vater ihr manchmal eine klebt. Sie erzählt das so emotionslos, als würde sie die Einkaufsliste vorlesen.

 

Ich informiere Klassenlehrerin und Horterzieherin. Das Jugendamt ist schon längere Zeit eingeschaltet.

 

 J. aus der 4. Klasse lebt in einer Pflegefamilie. Drei Mädchen, die ich in der 7., 8. und 10. unterrichte, sind in der gleichen Pflegefamilie.

 

Er malt im Unterricht nur Kästchen. Die ganze Zeit Kästchen. Er bräuchte dringend eine Einzelfallhelferin. Hatte er früher auch mal, erfahre ich. Manchmal springt er auf und rast durch die Klasse.

 

Lustige Momente:  „Frau Mittag: Sie haben ja gar nicht unterrichtet“

Einmal erhielt ich gegen 6 Uhr morgens einen Anruf der Primärstufenleiterin. Mein Stundenplan habe sich verändert, ich solle etwas später kommen und ausnahmsweise zwei Stunden Deutsch in der 4a unterrichten und eine Stunde Sachunterricht. Der Klassenlehrerin musste kurzfristig in Quarantäne. Die Klasse kannte ich ja schon durch meine Zeit als Vertretungslehrerin. Der Klassenlehrer teilt mir dann noch kurz mit, was gerade Thema ist im Unterricht. 

Fröhliches Wiedersehen mit den Kindern aus der 4. Klasse. Als dann die Unterrichtsstunde Sachunterricht beginnt, bin ich etwas ratlos. Ich weiß, dass alle Kinder eine Pflanze in einem Glas angelegt haben. Das Wachstum soll irgendwie beschrieben und beobachtet werden.  In dieser Schulstunde  mache ich ehrlich gesagt gar nichts, wüsste auch nicht, was. Die Kinder beobachten und schreiben brav.

 

Am Ende der Unterrichtsstunde kommt eine Schülerin und sagt: „Eines hat mich heute gewundert, Frau Mittag: Sie haben ja gar nicht richtig unterrichtet. Das Thema war doch der Wasserkreislauf. Die Schulbücher liegen hinter Ihnen.“ Ich muss laut lachen. Recht hat sie! „Das stimmt! Ich hatte ja auch gar keine Vorbereitungszeit.

 

Einmal gab es plötzlich folgendes Drama: Ein Mädchen brach kurz vor der Schulpause in Tränen aus. Aus Versehen hat ihr jemand eine klebrige Knete zugeworfen und das war leider in ihrem wunderschönen Haar gelandet. Jetzt war die Not groß. Denn aus dem Haar durfte auf keinen Fall etwas herausgeschnitten werden. Aber gleichzeitig litt sie auch enorm an dieser hässlichen Knetmasse, die im Haar festhing wie festgenagelt.  Auf ihren Wunsch hin habe ich mich dann mit ihrer Mutter beraten. Gleichzeitig kamen zwei Mädchen und ein Junge zur Hilfe und haben so lange an ihr rumgezogen bis alles wieder halbwegs in Ordnung war.

 

Unvergesslich schöne Momente

Die Vertretungszeit im Dezember 2020 in der 4a war schön. Thema war ein  „Ganz - Buch“, das heißt, es wird ein ganzes Buch gelesen. Das Buch hieß „Mord im Waisenhaus“ (oder so ähnlich). Dazu gab es viele Aufgaben. Auch richtig schöne Aufgaben. Zum Beispiel konnten die Kinder der Autorin einen Brief schreiben und mitteilen, was ihnen gefällt und was nicht.

 

Ich war aber auch ein bisschen frei in der Gestaltung. Ich konnte in jeder Stunde  Advents- und Weihnachtsthemen einbauen. In der Bibliothek habe ich mir einige Bücher ausgeliehen, durchgesehen und in jeder Deutschstunde durfte ein Kind ein Kapitel aus einem Adventsbuch vorlesen. Außerdem gab es in jeder Stunde auch ein Gedicht. Das hat den Kindern Freude bereitet. Alle wollten vorlesen!

 

Zum Thema Neujahr habe ich ein sprachlich etwas veraltetes, aber lustiges Gedicht von Joachim Ringelnatz gefunden: „Neujahr“. Es enthält drei Strophen. In der zweiten Strophe wirft ein Schutzmann seine Mütze hoch. Da hatte ich folgnde Idee: Wir haben hier drei Tischreihen. Also jede Tischreihe übernimmt eine Strophe. Und die zweite darf an der entsprechenden Textstelle eine Mütze hochwerfen. In der letzten Schulwoche vor Weihnachten, vor dem plötzlichen Lockdown, haben wir dieses Gedicht täglich geübt. Und die zweite Tischreihe schaute mich immer schon begeistert und erwartungsvoll an: Mütze in der Hand. Und dann! Hoch damit.

 

Das war herrlich. Ob sie das Gedicht jemals ihren Eltern zu Neujahr oder ihrem Klassenlehrer vorgetragen haben, weiß ich nicht.

 

In der 4. Klasse ist auch ein ausländisches Kind, alle anderen scheinen mir aus biodeutschen Familien zu kommen. Der irakische Junge lebt in einem Flüchtlingsheim. Er ist der erste, der in Quarantäne muss, weil jemand im Heim Corona hat. Anfangs weiß ich gar nicht, ob er überhaupt sprechen kann. Er ist immer vollkommen ruhig und still, sicher auch einfach schüchtern. Ich gehe in der Pause mal zu ihm hin und sage ihm: er kann mich jederzeit alles fragen und immer zu mir kommen. Und dass er nie Angst haben braucht, etwas falsch zu machen.

 

Es ist sicher nicht mein Verdienst, dass er Vertrauen schenkt. Aber eines Tages spricht er im Unterricht. Er ist ganz stolz, dass er eine Antwort weiß.

 

Ich beobachte ihn auf dem Schulhof wie er mit den anderen rumtollt und ich muss meine Vermutung, dass er vielleicht isoliert ist, korrigieren. Er wirkt auf mich vollkommen integriert. Da geht mein Herz auf. Schulen können Integrations-Weltmeister sein.

Seitdem ich einmal erfolgreich einen Dinosaurier gezeichnet habe, komme ich aus der Nummer "Tiere zeichnen" nicht mehr raus. Die Kinder umringen mich und wollen, dass ich Meerschweinchen, Tiger und Hamster im Rad zeichne! Meerschweinchen zeichnen ist echt schwer. Die haben irgendwie gar keinen richtigen Hals.

 

Bonjour! Salut!

Kein Wunder, dass mir zuerst soviele Geschichten zu den Kleinen in der Grundschule einfallen. Natürlich könnte ich auch viele Geschichten über die pubertierenden Jugendlichen erzählen und was ich alles mit den Schüler*innen aus der 7., 8. Und 10. Klasse erlebt habe bei meinem Versuch, sie für die französische Sprache zu begeistern. Da gab es einige Tiefpunkte und wenige Höhepunkte.

Dass ich den Schüler*innen in der 7. Klasse die Zahlen auf Französisch von 1 – 20 in Gedichtform beibringen konnte, war auf jeden Fall ein Höhepunkt. Einer konnte das Gedicht zu meiner großen Überraschung noch nach dem wochenlangen Lockdown!

 

Ansonsten war alles mühevoll. In der 10 Klasse war eigentlich schon alles verloren. Das Französischbuch hing alles zum Hals raus. Unvergesslich die erste Stunde: Als ich gerade mit dem Unterricht beginnen wollte, holten zwei erstmal mit größter Selbstverständlichkeit ein Kartenspiel raus.

Einige hatten einfach gar nichts mit, holten nichts aus ihrer Schultasche raus, wollten ständig aufs Klo, schauten mich nur mit großen Augen unter ihren Kapuze an. Aussprache, Vokabular, Grammatik – überwiegend Fehlanzeige. Eine positive Überraschung gab es dann bei den Klassenarbeiten: Einige waren gar nicht so schlecht. Nur das mit Sprechen hatte ihnen niemand beigebracht. Ist ja nicht so einfach und muss man übrigens üben!

In jeder Stunde habe ich französische Musik eingebaut., alte Chansons. Und neue. Das kam gut an.Außerdem habe ich mir einen Frankreich-Quiz ausgedacht. Das fand ich lustig.

Die 8. Klasse war am schwierigsten, mitten in der Pubertät. Permanente Störungen, einer hat – aus welchen Gründe auch immer – gerne im Unterricht die britische Fahne geschwenkt anstatt auf meine Fragen zu antworten. Hausaufgaben: überwiegend Fehlanzeige. Vier Mädchen waren auf symbiotische Weise zusammen wie verknotet und hätten am liebsten alle an einem Tisch gesessen. Es war vor allem mit diesen Mädchen ein permanenter Kampf. Manche haben sie mich nachgeäfft, fühlten sich immer ungerecht behandelt und haben ansonsten oft mit allen Mitteln versucht, den Unterricht zu verhindern.

 

Einmal beschwerten sich drei Mädchen aus dieser Klasse über mich in meiner Abwesenheit beim Schulleiter. Warum? Weil ich im Unterricht Französisch spreche! Na so was.

 

Die 7. Klasse war anfangs neugierig. Schließlich war Französisch ganz neu für sie. Aber sie haben auch schnell das Interesse verloren. Vokabeln üben: was ist das denn. Wozu. Die Schulschließungen und der Onlineunterricht waren natürlich nicht besonders hilfreich, um den Kontakt zu halten.

Zur Ehrenrettung der 8. Klasse muss ich hinzufügen, dass ich zwei sehr fleißige und wissenbegierige Schülerinnen hatte, die Französisch sehr gerne mochten. Das war eine Wohltat!

 

Mein Resümee: Unterricht macht überhaupt keine Freude, wenn man nur gegen Mauern läuft und einfach keine Motivation da ist. Insofern fällt mir der Abschied als Französichlehrerin leicht ..

 

Und jetzt?

Am 23. Juni war mein letzter Schultag, Zeugnisausgabe, sehr herzlicher Abschied vom Kollegium. Die Kollegin, die ich ein Jahr vertreten habe, nimmt im August wieder ihre Arbeit auf. Etwas bitter für mich: Obwohl ich die gleiche Leistung erbracht habe wie alle anderen, endet mit dem letzten Schultag auch meine Bezahlung. Das gehört mit zu diesem kranken Schulsystem: Vertretungslehrer*innen stopfen die Löcher, bringen die gleiche Leistung wie alle anderen, werden aber schlechter bezahlt. Komisch, dass sich daran nichts ändert, obwohl doch angeblich die Not so groß ist. Überhaupt sollte man die Schulbehörden komplett modernisieren. Warum dürfen die Schulleiter*innen nicht selbstständig bestimmen, wen sie einstellen? Alle Unternehmen und Organisationen treffen doch auch ihre Personalauswahl.

 

Ob ich weiterhin als Lehrerin arbeiten will? Ich weiß es nicht. Vieles hat mir gut gefallen und Freude bereite, vieles auch nicht. Nur eines ist gewiss: Ich werde nie wieder an einem Rekrutierungsverfahren der Senatsverwaltung für Bildung in Berlin teilnehmen. Die Castings dürfen gerne ohne mich stattfinden.

 

Zwei Dinge wirken nachhaltig:
Wenn es keine intensive Unterstützung für die „Schwachen“/Benachteiligten gibt, sind diese Kinder bereits in der 2. Klasse abgehängt. Spätestens in der 4. Klasse ist die Diskrepanz riesig – zwischen denen, für die die Schule ein toller Ort ist, die dort Erfolgserlebnisse haben und Freude am Lernen und denjenigen, die einfach nicht mithalten können, weil sie völlig andere Startvoraussetzungen haben.  Als Grundschullehrerin wäre es für mich, schwer auszuhalten, diese Kinder zu erleben, die schon sehr früh die Erfahrung machen, dass sie einfach nicht mitkommen (können). Chancengleichheit ist ein wunderbares Ideal. Aber die meisten staatlichen Schulen sind gar nicht entsprechend ausgestattet.

 

Und: Ich halte es für einen Fehler im System, dass diese Jugendlichen sich mit Französisch quälen müssen. Viele sind im Deutschen schlecht, so dass Französischlernen einfach eine völlige Überforderung ist. Wer schlecht ist in seiner Muttersprach tut sich in der Regel schwer mit Fremdsprachen. Gut Deutsch und Englisch zu lernen wäre Aufgabe genug!

 

Und die Kleinen: Wer weiß, vielleicht fahre ich ja nochmal hin. Vielleicht muss es ja kein Abschied für immer sein. Vielleicht klappt ja ein Schulbesuch im  Herbst. Oder zu Weihnachten. Dann fliegen vielleicht wieder Mützen an die Decke.

 

*Name und Ort der Schule sowie der Schüler*innen wurden anonymisiert.

 

 

 

 

 

 

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Jaqueline Wichert (Sonntag, 01 August 2021 07:56)

    Liebe Gabriele, ein wunderbarer Bericht, gefällt mir sehr gut. Und neben dem Unterhaltsamen und wirklich zu Herzen gehenden Momenten, hast Du einen sehr guten Blick auf die Strukturen und Mängel. Da hast Du ganz Wertvolles getan. Ich kann mir vorstellen, dass einige Dich sehr vermissen werden. Wer weiß, was noch kommt…? Alles Gute für Dich. Liebe Grüße von Jaqueline

  • #2

    Elisabeth (Montag, 02 August 2021 10:32)

    Liebe Gabriele,
    Du kannst wunderbar schreiben!!!!, vielen Dank für diesen Einblick in Deine Schulzeit als Lehrerin. Du hast wirklich viel geleistet und erlebt und wie Jaqueline schon sagt einen sehr guten Blick auf die Strukturen gegeben. Viele müßten sofort aufgebrochen werden zum Wohle aller...., ich frage mich ob nur hier in Deutschland das System so schwierig ist?
    Ich kann nach dem Lesen Deines Berichtes gut verstehen, dass Dir der Abschied auf der einen Seite leicht und auf der anderen Seite wieder nicht so leicht fiel. Wer weiß, was die Zukunft noch für Dich als Lehrerin vor hat, denn Du hast großes Talent!!!
    Herzlich Elisabeth

  • #3

    Krüger (Montag, 02 August 2021 22:57)

    Liebe Gabriele
    Du hast einen wunderbaren Text verfasst. Sehr schön zu lesen. Unglaublich toll wie du in das „kalte Wasser“ Schule gesprungen bist und dies noch zu Corona Bedingungen. Man liest viel Engagement bei deinem Tun und viel Wertschätzung dem Beruf „Lehrer“ gegenüber und du hast einen guten Blick für die Strukturen im Bildungssystem. Ich bin mir sicher, dass dies Jahr auch bei den Schülern in guten Erinnerungen bleibt. Dir alles Gute auf deinem beruflichen/privaten Weg.
    Lieben Gruß von Heidemarie