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Nelly & Nadine

Premiere bei der Berlinale im Februar 2022

Zur Berlinale im Februar 2022 hatte der Dokumentarfilm „Nelly & Nadine “ Premiere.

Thematisch hat er mich sehr angesprochen. Aber als im Februar 2022 der Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, war ich erschüttert und jedenfalls innerlich nicht bereit für einen Film mit so einer schwerwiegenden Thematik. Die Gegenwart eines Krieges in Europa nahm und nimmt mit emotional natürlich mit, es war kein Platz für das Grauen aus der Vergangenheit.

 

Ein halbes Jahr später entschloss ich mich dann doch an einem Sonntag mit einer Freundin genau diesen Film anzuschauen. Zum Glück! Was für ein Film!

 

Alle Kinoplätze im Delphi Lux waren besetzt. Den ganzen Film über herrschte eine gespenstische Stille. Mensch hätte eine Feder fallen lassen können.

 

Meine Befürchtung, dass der Film auf die bekannte NS-Ikonographie zugreift, war unberechtigt.  Der Film verzichtet fast vollständig darauf. Und erreicht auch ohne die bekannten Bilder des Grauens aus den Lagern eine hohe Wirkung.

 

Der schwedische Regisseur Magnus Gertten schafft mit anderen erzählerischen Mitteln als den bekannten ein filmisches Meisterwerk im Fach Dokumentarfilm. 

 

Die beiden Frauen, um deren Leben es geht, leben schon lange nicht mehr. Gertten musste  filmische Lösungen finden, um ihren Lebensweg, ihren Leidensweg, ihre Liebe erzählen zu können. Das ist mir gelungen.

 

Unberührter Nachlass

Diese filmische Lösung besteht in erster Linie in dem Mitwirken der Enkelin von Nelly, Sylvie Bianchi. Sie lebt in Frankreich auf dem Land, auf einem Bauernhof. Dort finden viele Gespräche mit dem Regisseur statt. Sie hat den Nachlass ihrer Großmutter Nelly  geerbt. Den hat sie über 20 Jahre lang unberührt, ungeöffnet gelassen. Wer weiß, was in den Kartons an Dokumenten, an Wahrheiten verborgen ist? Ihre eigene Mutter war strikt dafür, dass dieser Nachlass geschlossen bleibt. Es sollte ein Familiengeheimnis bleiben.  Für Sylvie eine große Last.

 

Am Anfang war eine Wochenschau

Anfangssequenz des Film: Zu sehen ist ein Ausschnitt einer Wochenschau aus dem Jahr 1945. Darin wird von einer Rettungsaktion des schwedischen Roten Kreuzes berichtet. Tausende Überlebende von Konzentrationslagern werden nach Schweden gebracht. Der Film zeigt die traumatisierten Frauen bei der Ankunft in Schweden.

 

Der schwedische Regisseur Gerrten kann den Blick nicht lassen von den Gesichtern der gefilmten überlebenden Frauen.  Und geht auf Spurensuche. Daraus ist sein erster Dokumentarfilm entstanden („Harbour of Hope“, 2011). Er ist den Personen gewidmet, die er durch seine Recherchen in den Bildern identifizieren konnte. Der Film wurde auf internationalen Festivals gezeigt. Im Publikum saßen  Menschen, die weitere Personen aus der Wochenschau identifizieren. Es folgt der zweite Dokumentarfilm „Every Face has a name“ (2015). Das gleiche hat sich dann noch einmal wiederholt.

 

Zu Beginn des nun dritten Dokumentarfilms „Nelly & Nadine“  zoomt die Kamera an eines der Gesichter ganz nah heran.  Der Regisseur ist fasziniert von dem Gesichtsausdruck dieser Frau. Ihr Blick ist besonders, er lässt alles offen. 

 

Spurensuche

Den schwedische Regisseur lässt die Frage nicht mehr los:  Wer ist sie?  Was hat sie erlebt?

Dann geht der Regisseur auf Spurensuche. Was er findet, ist die Geschichte der Chinesin Nadine und der französisch-belgischen Opernsängerin Nelly. Sie lernen sich 1944 im KZ Ravensbrück kennen. Und bleiben ein Leben lang zusammen. Eine wahre Liebe.

 

Die Spurensuche führt ihn nach Spanien, nach Frankreich, nach Belgien, nach Deutschland. Er spricht mit Menschen, die sich an die beiden oder eine von ihnen erinnern.

 

Da ist Nadine, die in den 20er Jahren als Tochter des chinesischen Botschafters in Spanien lebte und dann als Assistentin im  legendären Frauen-Salon der Amerikanerin Djuna Barnes in Paris arbeitete; nach der Besetzung Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht wurde sie verhaftet und ins KZ gebracht. Ihr Verbrechen: Sie hatte Menschen geholfen, von Vichy-Frankreich über die Pyrenäen zu fliehen.

1944 lernt sie dort Nelly im KZ Ravensbrück kennen: Opernsängerin, Mutter zweier Töchter,  seit den frühen 40er Jahren im Widerstand, dann verhaftet und nach Ravensbrück deportiert.

 

Madame Butterfly im KZ Ravensbrück

Weihnachten im KZ Ravensbrück: Nelly gibt ein ein Konzert. Nadine ist auch im Publikum. Und ruft ihr zu: „Bitte singe ‚Madame Butterfly‘“.  Mit dieser Begegnung beginnt die Liebesgeschichte. Nelly verliebt sich sofort. Ihr KZ-Tagebuch erzählt von dieser ersten magischen Begegnung. Nach der Befreiung verlieren sie sich kurz aus den Augen, weil eine der beiden nach Mauthausen deportiert wird. 1946 finden sie sich wieder. Und bleiben ein Leben lang zusammen. Sie leben vor allem in Venezuela. Nelly tritt wieder als Opernsängerin auf, Nadine arbeitet in einer Bank.

 

Erzählt wird anhand von den Dokumenten, die sich in dem Nachlass von Nelly befinden: geradezu poetische Tagebücher aus dem KZ, Fotos vom Zusammenleben, Super-8—Filme aus ihrer Zeit in Venezuela. Der Regisseur ist ein Prozessbegleiter: Er filmt die Enkelin Sylvie dabei wie sie sich mutig Stück für Stück die Geschichte ihrer Großmutter aneignet. Dieser Prozess dauert ein Jahr. Es fließen Tränen bei der Sichtung der Tagebücher und Fotos, soviel Schweres aus der Zeit des Krieges und der Internierung kommen ans Tageslicht.  Aber umso mehr sie sich diesen Dokumenten stellt, desto befreiter fühlt sie sich. Man sieht ihr die enorme Entlastung an, endlich hat das Verschweigen ein Ende.

 

„Nelly & Nadine“ ist ein bedeutender Film über eine wahre Liebe. Und über zwei mutige Frauen, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um andere zu retten.

 

Dem schwedischen Regisseur Magnus Gerrten und  der Enkelin Sylvi, beiden ist zu danken, dass sie diesen bedeutenden Dokumentarfilm ermöglicht haben.

 

Jetzt kann niemand mehr die Geschichte frauenliebender Frauen in der NS-Diktatur und den KZs  leugnen. 40 Jahre Engagement für das Gedenken dieser Gruppe von NS-Verfolgten kommt endlich ans Ziel. Nach der Filmvorführung im Delphi Lux erzählen Aktivisten aus der DDR davon, dass die Stasi alle derartigen Gedenkinitiativen verhinderte. Jeder entsprechende Eintrag  im Gästebuch der Gedenkstätte wurde gelöscht. Aber nach dem Mauerfall wurde es auch nicht einfacher, ans Ziel zu kommen.

 

Nun, seit Mai 2022, gibt es im KZ Ravensbrück eine Gedenkkugel für internierte frauenliebende Frauen.

 

Seit November 2022 läuft der Film „Nelly & Nadine“ in den Berliner Kinos.

 

Jährlich wird in Deutschland am 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, an die die Befreiung von Auschwitz durch die sowjetischen Truppen erinnert. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik wird  im Januar 2023 auch den queeren Opfern der NS-Diktatur gedacht. 

 

 

 

 

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